Zu Beginn meiner Beratungstätigkeit habe ich mich oft noch erschrocken, wenn meine Klient:innen zu weinen begonnen haben. Ich fürchtete, etwas falsch gemacht zu haben, wenn die Tränen kullerten, und fühlte mich dabei unwohl. Fremde Tränen lösten in mir Irritation, Unbehagen und (über)großes Mitgefühl aus. „Da musst du jetzt etwas dagegen tun!“, dachte ich mir, „Rette sie!“. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass die Tränen bereits der erste Bestandteil der Rettung sind. Bis dahin war mir die wahre Bedeutung von Tränen, und die heilsame Kraft die in ihnen liegt, unbekannt.
Zu weinen bedeutet für uns in der Regel, die Kontrolle über uns zu verlieren. Noch unangenehmer ist es, wenn uns das vor anderen Menschen passiert. Meiner Erfahrung nach versuchen aber gerade Menschen, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden, die Kontrolle unter allen Umständen zu behalten oder wiederzuerlangen. Angefeuert durch tief verwurzelte Glaubenssätze („Ich muss jetzt funktionieren!“) oder gut gemeinte Ratschläge wie („Du musst jetzt stark sein!“) verbitten sie sich dann oft selbst, vermeintlich schwach zu sein und sich die Überforderung einzugestehen bzw. zu zeigen. Aus der Zeit gefallene Stereotype wie „Männer weinen nicht!“ machen die Sache auch nicht leichter. Ganz im Gegenteil, das erzeugt weiteren Druck und schadet noch mehr. Aus diesem Grund habe ich mir bei meiner Arbeit angewöhnt, subtil ein Ventil anzubieten, durch das dieser Druck, in einer sicheren Umgebung und unter kontrollierten Bedingungen, entweichen kann. Wenn ich merke, dass sich entsprechender Druck aufbaut, dann reiche ich ohne große Worte ein Taschentuch und signalisiere mit einem Kopfnicken: „Es ist ok.“ Mehr braucht es in den meisten Fällen nicht, um die Schleusen zu öffnen. Dieser Moment, in dem mein Gegenüber einfach nur da sein und fühlen darf, und sich dabei für nichts erklären muss, ist heilsam.
Dabei müssen es gar nicht ganze Sturzbäche von Tränen sein, die zum Vorschein kommen. Oft ist es nur eine einzelne Träne, die die Erleichterung bringt. Dadurch kann der aufgestaute Druck entweichen und ganz nebenbei werden durch die Tränen auch noch Stresshormone aus dem Körper geschwemmt. Nach dem Weinen wird es still. Daraufhin folgen meistens Worte, die ebenfalls entlasten. Und vielleicht gibt es dann, als Draufgabe und wenn es gewünscht wird, auch noch eine Umarmung.
Wir alle kennen dieses Schema bereits aus unserer Kindheit. Egal wie traurig wir waren und wie bitterlich wir geweint haben, die Tränen haben irgendwann aufgehört und der anschließende Trost hat uns gut getan. An diese Erfahrung können wir auch heute anknüpfen. Seitdem ich das erkannt habe, lösen Tränen bei mir keine Irritationen mehr aus. Ich erlebe täglich, dass Tränen befreien, beruhigen und entspannen. Sie erscheinen zuerst als Teil des Problems und können sich später zu einem Teil der Lösung wandeln. Und deshalb bin ich dankbar für jede einzelne, ehrliche Träne.
© Thomas Kalkus-Promitzer 2022-09-08
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