Gefühle sind eine zutiefst körperliche Erfahrung. Wir erleben sie mit all unseren Sinnen. Sie kennen keine Vergangenheit. Eine Erinnerung, die mit Emotionen verknüpft ist und wieder ins Bewusstsein dringt, manifestiert sich immer im Hier und Jetzt als physisch wahrnehmbare, und vor allem sinnesspezifisch erlebbare Reaktion. Gefühle können zwar in der Vergangenheit erzeugt worden sein und sich nach wie vor auf sie beziehen, aber erleben können wir sie nur im aktuellen Moment. Natürlich trifft das auch auf das Gefühl der Geborgenheit zu. Wenn wir Geborgenheit vermissen, dann tut uns das jetzt weh, in diesem Augenblick. Angelegt und angeregt wird diese erste Wahrnehmung und unsere Reaktion darauf bereits, wenn wir vom Mutterleib getrennt und in diese kalte, fremde, grelle Welt gestoßen werden. Von diesem Moment an fürchten wir die Trennung und suchen nach neuer Verbundenheit in der Gemeinschaft. Unsere Sinne spielen dabei eine wichtige Rolle. Bereits ab ca. 14 Tagen, wenn unsere Sehkraft noch sehr eingeschränkt ist und wir nur unscharf sehen, reagieren wir auf zwei sich bewegende Punkte an der Wand, sofern diese horizontal angeordnet sind. Ist da jemand? Wir suchen die Blicke der anderen, um uns darin selbst wiederzufinden. Intuitiv wissen wir, dass das Sehen eine wichtige Rolle für unsere Entwicklung spielt. Vor allem das gemeinsame Schauen in die gleiche Richtung ist dafür förderlich. Gemeinsam ein Bilderbuch anzuschauen, im Zirkus die Artist:innen zu bewundern oder die Enten am Teich, das verbindet uns. Wir lernen dadurch, die Absichten anderer Menschen zu verstehen und fühlen uns in eine Gemeinschaft eingebunden. Das schafft Vertrauen und fördert das Gefühl der Geborgenheit.
Eine ähnliche Funktion erfüllt das Hören. Egal, wie falsch Mama sang, es beruhigte uns. Wir liebten Omas Erzählungen von ganzem Herzen. Wenn Oma uns früher immer wieder und wieder dieselben Märchen erzählen musste, dann durfte sie dabei kein einziges Wort verändern, sonst protestierten wir Kleinen lautstark. Das hatte etwas Vertrautes und war einfach nur schön. Gemeinsam ein schönes Bilderbuch anzuschauen, daraus durch eine vertraute Stimme vorgelesen zu bekommen, einander dabei ganz nah sein zu dürfen, allein der Gedanke daran wärmt das Herz.
Wo wir authentische Nähe spüren, können wir uns aufgehoben fühlen. Wenn Du mir erlaubst, mich an Dich anzulehnen, dann machst Du mir damit ein Angebot, das Schutz, Wärme und Vertrauen enthält, die drei Kernelemente der Geborgenheit. Mich im richtigen Moment zu halten, stützt und stabilisiert mich körperlich wie mental. Vorausgesetzt, dieses Halten entpuppt sich nicht als Klammern. Um mich geborgen zu fühlen, möchte ich mich anlehnen können, nicht müssen. Ich möchte es wollen, nicht sollen. Wenn Du Dich dabei ebenso wohlfühlst wie ich, dann erleben wir den Zauber des Moments gemeinsam. Hier und Jetzt, in einem kostbaren, flüchtigen Augenblick, den wir nicht festhalten können.
© Thomas Kalkus-Promitzer 2022-08-30