In der Nacht läutet das Telefon und reißt mich schrill aus meinen Träumen. Ich werde in den Einsatz gerufen. Die Polizei hat die traurige Pflicht, nach einem Verkehrsunfall eine Todesnachricht zu überbringen. Als Mitglied des Kriseninterventionsteams soll ich die Behörde dabei begleiten.
Vor der Tür der betroffenen Familie, die wir gleich unsanft wecken werden, beginnen meine Gedanken zu kreisen und ich merke, wie meine Anspannung steigt. Obwohl ich schon viele derartige Einsätze absolviert habe, weiß ich nicht, was mich diesmal erwartet. Bei dieser Tätigkeit gibt es keine Routine. Jeder Einsatz stellt eine neue Herausforderung dar. Als sich nach längerem Klopfen die Tür einen Spalt weit öffnet, bricht das Unheil mit voller Wucht über die Familie herein. Von einem Moment auf den anderen ist die Welt nicht mehr so wie zuvor. Die erste Reaktion der Betroffenen ist fast immer die Gleiche: Sie stehen unter Schock und fühlen sich wie in einem Albtraum, aus dem sie hoffen, bald zu erwachen. Doch das Unfassbare ist traurige Realität, für immer unumkehrbar. Es ist nachvollziehbar, dass sich die meisten Menschen in solchen Situationen in einem seelischen Ausnahmezustand befinden. Sie reagieren schockiert und überwältigt von den surreal erscheinenden Ereignissen, die sie nicht fassen können. Szenen, die man sonst nur aus dem Fernsehen oder der Zeitung kennt, spielen sich nun in unmittelbarer Nähe ab. Wenn die Welt aus den Fugen gerät, heißt es, die nächste Stunde zu überstehen und wenn möglich, auch den nächsten Tag. Irgendwie und hoffentlich nicht allein. Jede noch so kleine Orientierungshilfe und Unterstützung ist dabei kostbar, jeder zu große Schritt überfordert.
Die Wucht der Emotion beeinflusst die Aufnahme von Informationen erheblich. Das führt im Einsatz dazu, dass ich mich mehrmals vorstellen und das Geschehene und meine Aufgabe wiederholt erklären muss. Die Betroffenen suchen im Chaos verzweifelt nach Orientierung und stellen viele Fragen: Was passiert hier gerade? Warum passiert das und wie kann das sein? Was bedeutet das jetzt für mich und wie geht es weiter? Während das Adrenalin durch den Körper rast, scheinen die eigenen Gedanken und Gefühle unverständlich und fremd. Diese Reaktion ist völlig normal. Die Situation, mit der die Betroffene plötzlich konfrontiert sind, ist es nicht.
Um einen Umgang damit finden zu können, ist es wichtig, die Ereignisse zumindest ein Stück weit verstehbar zu machen. Neben dem Trösten ist das die wichtigste Hilfestellung in Situationen wie diesen. Was wir einordnen und begreifen können, macht uns weniger Angst. Dabei ist es völlig normal, dass sich nicht immer alles sofort verstehen lässt. Manche Frage wird für immer unbeantwortet bleiben. Das ist Teil der neuen Realität. Erst wenn das Chaos einem Verständnis für die Situation und die eigene Reaktion darauf weicht, erleben sich Menschen wieder als handlungsfähig. Dann wird es wieder möglich, nach vorne zu schauen.
© Thomas Kalkus-Promitzer 2022-10-05
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