Zwischen Einsamkeit und Extremismus: Was hinter dem Incel-Phänomen wirklich steckt
- Thomas Kalkus-Promitzer
- 22. März
- 5 Min. Lesezeit
Die Netflix-Serie Adolescence hat viele Menschen überrascht. In intensiven, manchmal verstörend realistischen und bedrückenden Szenen erzählt sie vom Leben junger Menschen zwischen Leistungsdruck, Identitätssuche, sozialer Unsicherheit und digitaler Abhängigkeit. Doch unter der Oberfläche brodelt etwas Dunkleres – Einsamkeit, Frustration, tiefe Orientierungslosigkeit. Eine der Nebenfiguren, ein junger Mann, der sich in Onlineforen verliert, wurde in den sozialen Medien heftig diskutiert. Er sei eine Karikatur, schrieben einige. Andere meinten, er sei die treffendste Darstellung eines Incels, die es je in einer Serie gab. Und tatsächlich – die Figur wirft ein Schlaglicht auf ein Phänomen, das viele noch immer nicht ganz einordnen können: die Incel-Kultur. Sie ist mehr als ein Internetphänomen. Sie ist Ausdruck einer tiefen gesellschaftlichen Wunde.
Der Begriff „Incel“ steht für „involuntary celibate“ – unfreiwillig zölibatär. Er beschreibt Menschen, meist Männer, die keinen Zugang zu Sexualität und romantischen Beziehungen finden, obwohl sie sich diese sehnsüchtig wünschen. Was zunächst nach einem privaten Problem klingt, hat sich in den letzten Jahren zu einer digitalen Subkultur entwickelt, die weit über persönliche Frustration hinausgeht. In einschlägigen Foren sammeln sich tausende Nutzer, die nicht nur über ihr Leid klagen, sondern zunehmend frauenfeindliche, antisemitische, rassistische und gewaltverherrlichende Inhalte verbreiten. Einige von ihnen haben diese Gedanken in die Tat umgesetzt – mit tödlichen Konsequenzen.
Doch um das Phänomen wirklich zu verstehen, muss man tiefer schauen. Was bringt junge Männer dazu, sich mit einem Begriff zu identifizieren, der Schwäche, Isolation und sexuellen Misserfolg betont? Warum ist es attraktiver, sich einer hasserfüllten Community anzuschließen, als Hilfe zu suchen? Und was sagt das über unsere Gesellschaft aus – über Männlichkeitsbilder, über die Rolle von Beziehungen, über das Gefühl, nicht dazuzugehören?
Viele Incels leiden unter einem geringen Selbstwertgefühl. Sie erleben sich als unattraktiv, unerwünscht, ausgeschlossen. Oft berichten sie von Mobbing in der Schulzeit, von fehlenden Freundschaften, von einer Kindheit, in der emotionale Nähe gefehlt hat. Die Pubertät, für viele eine Zeit der Rebellion und des Erwachens, wird für sie zur Zeit der Zurückweisung und Ohnmacht. Sie sehen, wie andere erste Beziehungen eingehen, wie Körper sich finden, wie das Spiel zwischen Nähe und Distanz beginnt – und sie selbst bleiben außen vor. Was zunächst vielleicht noch Hoffnung oder Verlegenheit auslöst, wandelt sich über die Jahre in Scham, Wut und Rückzug.
In Onlineforen finden sie erstmals ein Gefühl von Zugehörigkeit. Hier sind sie nicht mehr allein mit ihrem Schmerz. Andere verstehen, wie es ist, nie geküsst worden zu sein, nie begehrt zu werden. Doch die Gemeinschaft hat ihren Preis. Denn statt empathischer Unterstützung finden viele in diesen Foren eine Spirale aus Abwertung, Zynismus und Hass. Frauen werden als oberflächlich, kalt und grausam beschrieben. Männlichkeit wird auf Äußerlichkeiten reduziert. Die Welt erscheint als durch und durch ungerecht – ein Ort, an dem nur die „Chads“ und „Stacys“ – also besonders attraktive Männer und Frauen – glücklich werden dürfen. Diese Ideologie ist gefährlich. Sie verfestigt ein Weltbild, das keine Entwicklung zulässt. Wer sich als Incel identifiziert, nimmt für sich in Anspruch, dass sich nichts ändern wird. In dieser Welt ist nicht das eigene Verhalten oder die eigene Unsicherheit das Problem, sondern eine Art „gesellschaftlicher Verschwörung“, die bestimmte Gruppen privilegiert und andere ausschließt. Es ist ein radikaler Fatalismus, gespeist aus Kränkung, Ohnmacht und digitalem Gruppenzwang.
Doch so erschreckend diese Szenen sind – sie machen auch auf etwas aufmerksam, das bisher viel zu wenig Beachtung findet: die psychische und soziale Lage vieler junger Männer. In einer Welt, die sich rasant verändert, in der tradierte Rollenbilder bröckeln und emotionale Kompetenzen wichtiger denn je werden, fühlen sich viele überfordert. Sie sollen stark sein und sensibel, erfolgreich und empathisch, witzig und ernst, attraktiv und authentisch. Viele wissen nicht, wie das gehen soll. Und sie haben niemanden, der ihnen hilft, diese Unsicherheit auszuhalten und zu transformieren.
Das ist nicht nur ein individuelles Problem – es ist ein gesellschaftliches Versäumnis. Während es in den letzten Jahrzehnten viele Empowerment-Initiativen für Mädchen und Frauen gab, wurde das emotionale Erleben von Jungen oft übersehen. Es fehlt an offenen Räumen, in denen Jungen lernen, über Gefühle zu sprechen, über Unsicherheit, über Nähe und Distanz. Es fehlt an Vorbildern, die zeigen, dass Männlichkeit nicht Härte bedeutet, sondern Beziehungsfähigkeit, Selbstreflexion und Integrität. Es fehlt an einer Sprache, die es erlaubt, Schwäche zu zeigen, ohne beschämt zu werden.
Hinzu kommt die Digitalisierung. Viele junge Männer verbringen einen Großteil ihrer Freizeit im Internet – oft nicht in sozialen, sondern in konsumorientierten oder toxischen Räumen. Hier zählen Klicks, Likes, Status. Hier gibt es klare Hierarchien: wer gut aussieht, gewinnt. Wer nicht mithalten kann, verliert. Das reale Leben scheint für viele zu einer Bühne geworden zu sein, auf der man ständig performen muss – und wer den Text nicht kennt, wird ausgepfiffen.
Psychosoziale Beratung kann hier eine wichtige Rolle spielen – wenn sie es schafft, niedrigschwellig und empathisch zu sein. Viele Incels würden sich nie in eine klassische Beratung setzen. Sie würden sich schämen oder befürchten, nicht verstanden zu werden. Doch genau das ist der Punkt: Wer solche jungen Männer erreichen will, muss zuhören, bevor er urteilt. Muss anerkennen, dass hinter dem Hass eine tiefe Verletzung liegt. Muss Wege aufzeigen, wie man mit Frustration anders umgehen kann – ohne dabei das Leiden zu verharmlosen oder das Weltbild zu bestätigen. In der Praxis heißt das: Beratungsstellen sollten gezielt auch Jungen und junge Männer ansprechen – mit Formaten, die ihnen gerecht werden. Es braucht Peer-Beratung, Workshops zu Männlichkeit, digitale Angebote, die den Ton der Zielgruppe treffen, aber nicht deren Ideologie übernehmen. Es braucht auch eine klare Haltung gegen Gewalt und Frauenfeindlichkeit – aber nicht als moralischer Zeigefinger, sondern als Einladung zur Auseinandersetzung. Wer jungen Männern zeigt, dass sie sich verändern können, ohne ihre Würde zu verlieren, öffnet Türen.
Auch die Bildungsarbeit ist gefragt. Schulen und Jugendeinrichtungen sollten Räume bieten, in denen über Körperbilder, Sexualität, Genderrollen und Selbstwert gesprochen wird – ehrlich, differenziert und ohne Klischees. Denn viele der Mythen, die Incels in ihren Foren verbreiten, könnten entkräftet werden, wenn Jugendliche frühzeitig lernen, dass Beziehungskompetenz erlernbar ist und dass niemand allein aufgrund seines Aussehens wertlos ist.
Der gesellschaftliche Diskurs muss sich ebenfalls weiterentwickeln. Zu oft werden Incels als Freaks oder Monster dargestellt – was sie entmenschlicht und ihre Radikalisierung oft noch verstärkt. Gleichzeitig darf man die Gefahren nicht verharmlosen. Es braucht einen klaren Blick auf die Ideologie, aber auch ein offenes Ohr für die Geschichten, die dahinterstehen. Wer die Sprache der Verletzung nicht versteht, wird auch die Sprache des Hasses nicht deuten können.
Die Figur in Adolescence ist keine Ausnahme. Sie ist ein Spiegel. Sie zeigt, was passiert, wenn junge Menschen sich allein gelassen fühlen – emotional, sozial, spirituell. Sie zeigt, wie schnell sich Schmerz in Wut verwandeln kann, wenn niemand da ist, der hilft, ihn zu tragen. Und sie zeigt, dass wir alle gefragt sind: als Eltern, Pädagog:innen, Berater:innen, als Gesellschaft.
Der Weg aus der Incel-Ideologie ist möglich – aber er beginnt nicht mit Verurteilung, sondern mit Verstehen. Wer verstehen will, muss zuhören. Wer zuhört, kann begleiten. Und wer begleitet, kann helfen, neue Geschichten zu schreiben. Geschichten, in denen Nähe möglich ist, ohne Angst. In denen Männlichkeit Vielfalt bedeutet. Und in denen niemand glauben muss, dass er für immer allein bleiben wird.
© Thomas Kalkus-Promitzer, 2025