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Abschied von Sammy

Katharina liebte ihren Sammy innig. Sammy war ein 8-jähiger, kastanienbrauner Labradorrüde mit großen, treuherzigen Augen und glänzendem Fell. Er war wachsamer Beschützer, treuer Freund, einfühlsamer Therapeut und Familienmitglied zugleich. An einem warmen, sonnigen Frühlingstag wurde Sammy von einem Auto angefahren und verletzt auf der Straße liegen gelassen. Trotz sofortiger Hilfeleistung konnte auch die vertraute Tierärztin, zu der Sammy hastig gebracht wurde, nicht mehr helfen. Und so lag Sammy nun in dem kleinen Raum auf seiner Lieblingsdecke, die den kalten Tisch etwas wärmen sollte. Er wusste nicht, dass eine kleine Spritze ihn bald von seinem Leiden erlösen würde. Katharina streichelte ihren geliebten Weggefährten liebevoll und sehr behutsam. Sie redete beruhigend auf ihn ein, während ihr dicke Tränen über die Wangen kullerten. „Keine Angst, mein Großer, ich bin bei dir“, versicherte sie ihm mit brüchiger Stimme. Dann ließ sie sich von der jungen Tierärztin Vorgang und Ablauf der bevorstehenden Euthanasie ganz genau erklären. Es war ihr wichtig zu verstehen, was auf Sammy nun zu kam. Sie empfand es nicht nur als Ehrensache, sondern noch viel mehr als letzten Freundschaftsdienst, Sammy ganz nah zu sein, als dieser seine Reise über die Regenbogenbrücke antrat. Und dann kam der unabwendbare und unumkehrbare Moment. Ein letztes Mal atmete Sammy ein und aus. Dann verstummte er für immer.


An Sammys Verlust litt Katharina noch lange. Den gut gemeinten Ratschlag, sich doch einen neuen Hund anzuschaffen, um über die Trauer hinwegzukommen, schlug sie aus. Sammy war weg und nichts konnte ihn ersetzen. Allein schon der Gedanke daran tat weh und erschien ihr unverzeihlich. Manchmal fühlte sich Katharina in ihrer Trauer so unverstanden, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als sich zurückzuziehen. Sie wollte keine fremden Trauervorstellungen mehr übergestülpt bekommen. Das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte, war in ihrer Trauer bewertet zu werden. Glücklicherweise gab es da noch Marie, eine gute Freundin aus Studienzeiten. Ein paar Wochen nach Sammys Tod nahm Marie Kontakt mit Katharina auf. Sie hatte von Sammys letzter Reise erfahren und erkundigte sich mitfühlend nach dem Befinden ihrer alten Freundin. Nach einem vorsichtigen Herantasten am Telefon verabredeten sie sich zum gemeinsamen Kaffee in der Innenstadt, so wie sie dies früher so gerne getan hatten.


Während Katharina erzählte, hörte Marie einfach nur zu. Hie und da stellte sie eine Verständnisfrage. Sie wertete nicht und drängte sich nicht auf, sondern war einfach nur da. Das Gespräch schien beiden gut zu tun. Marie ahnte, dass sie Katharina die Trauer nicht abnehmen konnte. Aber sie konnte sie, zumindest eine kurze Zeit lang, mit ihr gemeinsam aushalten. Da fühlte sich Katharina gesehen, in ihrem Schmerz wahrgenommen und verstanden. Das war der Trost, den sich Katharina so sehr wünschte.


Der Verlust von Sammy war für Katharina eine schwere Bürde. In den Wochen und Monaten danach fühlte sie sich, bis auf wenige Ausnahmen, zunehmend allein. In dieser Zeit machte sie die schmerzliche Erfahrung, dass Trauer in unserer Gesellschaft meistens mit dem Verlust eines Menschen in Zusammenhang gebracht wird. Wer einen Menschen verliert, kann in der Regel damit rechnen, von seiner Umwelt Verständnis und Mitgefühl entgegengebracht zu bekommen. Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn wegen anderer Anlässe oder Gegebenheiten getrauert wird. Obwohl die Gründe für die Trauer unterschiedlich sein können, sind die Gefühle, die sie auslöst, sehr ähnlich.


Bei jeder Form der Trauer steht ein unwiederbringlicher Verlust im Mittelpunkt. Wir können um Menschen ebenso trauern, wie um verlorene Gegenstände, Tiere, eine zerbrochene Beziehung, einen Arbeitsplatz, den wir verlieren oder einen Lebensabschnitt, der zu Ende geht. Es tut weh, jemanden oder etwas für immer zu verlieren. Sammys Tod hinterließ bei Katharina eine klaffende Lücke, die nicht kleinzureden war. Es schmerzte zusätzlich, dass andere Menschen darauf mit Unverständnis und Ungeduld reagierten. Sie war es leid, sich ständig zu erklären und hatte keine Lust mehr, sich mit inhaltsleeren Floskeln auseinanderzusetzen. Um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen, versuchte sie, ihre Gefühle zurückhalten. Sie zeigte ihre Trauer nur noch in abgeschwächter Form und versuchte, so gut es eben gelang, ihre Gefühle ganz zu verdrängen. Die Trauer verschwand dadurch aber nicht, sondern wurde nur noch größer. Es kostete Kraft, sich selbst ständig kontrollieren zu müssen.


Als sie sich wieder mit ihrer Freundin Marie zum gemeinsamen Kaffee in der Innenstadt traf, verließ sie diese Kraft und mit einem Mal platzten alle unterdrückten Gefühle aus ihr heraus. Sie schluchzte und weinte bitterlich, als sich die Schleusen endlich öffneten. Die neugierigen Blicke und das Getuschel der anderen Gäste waren ihr bewusst, aber in diesem Augenblick völlig egal. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigte. Dann schnäuzte sie sich laut und ausgiebig in die Serviette, die vor ihr lag. Der durchdringende Ton erschien ihr auf eine seltsame Weise wie eine Fanfare des Triumphs. Die Blicke der anderen konnten ihr nichts mehr anhaben. Sie sah Marie erleichtert in die Augen und begriff in diesem besonderen Moment, dass die Trauer nicht das Problem, sondern die Lösung sein konnte.


Ein paar Tage danach kam Katharina, auf Maries Empfehlung hin, zu mir in die Praxis. Sie war nun bereit, sich ihrer Trauer zu stellen. Sie wollte sich wieder in der Welt zurechtzufinden, die seit Sammys Tod nicht mehr so war, wie sie einmal war. Es war eine mutige, bewusste Entscheidung, sich aktiv auf den Trauerprozess mit all seinen Facetten einzulassen. Ihre Gefühle erschienen ihr dabei nicht mehr als unangenehme Gegner, sondern wurden zu wertvollen Vertrauten.


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