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Familie S. hatte eine schwere Zeit hinter sich. Seit der Vater vor einem Jahr seinem Krebsleiden erlag, litt vor allem die Mutter schwer an diesem Verlust. Die beiden erwachsenen Kinder kümmerten sich rührend um sie, hielten engen Kontakt und besuchten sie täglich. Trotzdem fühlte sich Frau S. einsam. Daran konnten weder die fürsorglichen Kinder, noch die mitfühlenden, freundschaftlich verbundenen Nachbar:innen etwas ändern. Keine Ablenkung, kein noch so schöner, gemeinsamer Ausflug vermochten die seelische Wunde zu heilen. Die Einsamkeit blieb, auch inmitten von Menschen. In ihrer Hilflosigkeit begannen die Kinder von Frau S. Schuldgefühle zu entwickeln und sich viele Fragen zu stellen. Möglicherweise taten sie doch nicht genug? Vielleicht wäre es klüger, die eigenen Wohnungen aufzugeben und wieder ins Haus der Mutter zu ziehen, um rund um die Uhr bei ihr sein zu können? Ob karitative Vereine oder Selbsthilfegruppen eine Option wären? Diese Fragen konnten nicht mehr beantwortet werden. Gestern fand eine Nachbarin Frau S. tot im Garten.


Für die Hinterbliebenen geriet die Welt nun vollkommen aus den Fugen. Eine Lawine von Schuldgefühlen brach über sie herein und mit diesen noch mehr Fragen. Wäre dieser tragische Tod durch noch mehr Engagement nicht vielleicht doch zu verhindern gewesen? Gab es Anzeichen für das tragische Ende, die übersehen wurden? Was wäre gewesen, wenn die Tochter an diesem Tag eine Stunde früher gekommen wäre als ursprünglich geplant? Vielleicht würde Mutter noch leben, wenn da nicht dieser dumme Anruf dazwischengekommen wäre? Die Fragen wurden mehr und mehr, ebenso wie die Selbstvorwürfe.


Fragen, wie diese, sind in solchen Situationen ganz normal. Fast jeder Mensch würde sie sich stellen. Schuldgefühlen kommt für den Umgang mit Situationen, die wir als überfordernd erleben, eine zentrale Bedeutung zu. Jemanden die Schuld an einem Ereignis geben zu können, entlastet ein Stück weit. Durch Verurteilung und Selbstvorwürfe entwickelt sich bei Betroffenen die Vorstellung, sie hätten etwas zu einem anderen oder besseren Ausgang eines Geschehens beitragen können. Schuldgefühle erzeugen die Illusion, dass es möglich gewesen wäre, die Kontrolle über die Situation zu behalten oder zumindest zukünftig behalten zu können. Leider lässt sich aber nicht alles im Leben vorhersagen oder gar vermeiden. Mancher Erfahrung im Leben stehen wir ohnmächtig und hilflos gegenüber. Dann erleben wir uns in der Opferrolle. Durch die Selbstverurteilung treten wir aus dieser Opferrolle, versuchen die Verantwortung zu übernehmen und kompensieren solcherart die Erfahrung unserer totalen Ohnmacht. So betrachtet machen Schuldgefühle also durchaus Sinn. Sie können dazu beitragen, ein belastendes Ereignis zu verarbeiten, solange sie uns nicht zu sehr quälen. Dort, wo dies aber der Fall ist, sollten wir etwas dagegen tun und uns gegebenenfalls Unterstützung an unsere Seite holen.


© Thomas Kalkus-Promitzer 2022-09-23

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