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Die Freiheit, zu entscheiden

„Die geistige Freiheit des Menschen, die man ihm bis zum letzten Atemzug nicht nehmen kann, lässt ihn auch noch bis zum letzten Atemzug Gelegenheit finden, sein Leben sinnvoll zu gestalten.“ – Viktor Frankl


In seinem Buch „…trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ beschrieb der Wiener Psychiater Viktor Frankl 1946 seine Erfahrung, auch unter widrigsten Umständen, einen Sinn im Leben finden zu können. Inmitten äußerster Verzweiflung, existenzieller Not, Willkür und tausendfachem Tod entwickelten manche Häftlinge die psychische Strategie, sich auf das eigene Innenleben zu konzentrieren, um mit dem unvorstellbaren Leid besser umgehen zu können. So half es zum Beispiel, sich über schöne Dinge wie Blumen am Wegesrand, einen kleinen, bunten Singvogel oder den Sonnenaufgang zu freuen. Frankl selbst stellte sich oft vor, wie er nach seiner Haft in einem schönen, großen Saal einen Vortrag über seine Erlebnisse halten werde. Andere Häftlinge unterhielten sich in ihrer Fantasie stundenlang mit ihren Ehepartner:innen, Kindern und Freund:innen. Auch schöne Erinnerungen konnten eine kurzfristige Erlösung von der grausamen Realität bringen. Hilfreich war auch der zuweilen sehr makabere Humor, den manche Gefangene entwickelten, um mit einem kleinen Witz zwischendurch der Trostlosigkeit zu entfliehen.


Das KZ-System zielte darauf ab, die Gefangenen äußerlich wie innerlich zu brechen und zu zerstören. Eine Methode dafür war es, den Gefangenen weitgehend die Möglichkeit zu nehmen, eigene Entscheidungen zu treffen. Sie sollten sich ihrem Schicksal fügen, unterordnen und letztlich untergehen. Dort, wo sie sich entscheiden durften, ging es oft um Entscheidungen über Leben und Tod. Dementsprechend hatten viele Angst davor. Jene Gefangenen, die die eigenen Entscheidungen aber als letzten Ausdruck ihrer verbliebenen Autonomie und Freiheit verstanden, schufen sich wichtige Nischen für die eigene Selbstbestimmung. So kam es immer wieder vor, dass Gefangene, die selbst Hunger litten, die eigenen Essensrationen an andere, kranke Mithäftlinge verschenkten. Damit trafen sie ihre persönliche Entscheidung, die es ihnen ermöglichte, im Einklang mit den eigenen moralischen Standards zu leben. Das stärkte nicht nur den eigenen Überlebenswillen, sondern half auch anderen. Frankl zog aus dieser Erfahrung die wichtige Erkenntnis, dass der Mensch immer frei ist, sich zu entscheiden, wie er sich zu einer Situation stellt und welches Verhalten er daraus ableitet. Wer nicht auf Antworten von außen wartet, sondern diese Antworten für sich selbst findet und dazu steht, entdeckt so auch unter widrigsten Umständen einen Sinn im Leben.


„Leben heißt letztlich eben nichts anderes als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderung der Stunde.“ – Viktor Frankl


© Thomas Kalkus-Promitzer 2022-10-12

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