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Über Leidensdruck und Veränderung

Mein Verstand weiß: Nichts auf dieser wunderbaren Welt ist für die Ewigkeit. Alles ist im Wandel und vergeht. Und doch wehrt sich mein Bauchgefühl hin und wieder dagegen. Über manche Veränderungen kann ich mich freuen, andere würde ich aber lieber verhindern oder vielleicht sogar rückgängig machen, wenn ich nur könnte. Obwohl mich Veränderungen schon mein gesamtes Leben lang begleiten, fällt es mir doch immer wieder schwer, einen angemessenen Umgang damit zu finden. Damit bin ich aber nicht allein. Veränderungen machen uns allen zu schaffen. Da ist am Beginn der Übergang vom Mutterbauch in die fremde, grelle, kalte Welt. Es folgt das Kennenlernen dieser neuen Welt, ganz langsam, Schritt für Schritt. Kaum fühlen wir uns in unserer kleinen Welt sicher und geborgen und finden uns darin einigermaßen zurecht, eröffnen sich schon wieder neue Welten, die wir nicht immer freiwillig betreten. Kindergarten und Schule nennt sich nun das neue Terrain, das es zu erforschen und zu erobern gilt. Jedes Mal sind wir gefordert, die gewohnte Zone zu verlassen und uns auf neue Situationen und Gegebenheiten einzustellen. In der Ausbildung, im Studium, im Beruf und bei unserer ersten großen Liebe setzt sich diese Erfahrung fort. Kleine und große Lebensereignisse wie Krankheiten, Jobverlust, Ortswechsel und Pensionierung erfordern dann wiederum entsprechende kleine oder große Umstellungen. Das sind, insgesamt betrachtet, ganz schön viele Veränderungen, die uns das Leben abverlangt. Was für ein Glück, dass wir Menschen so anpassungsfähig und sehr oft zusätzlich so erstaunlich leidensfähig sind!


In meinen Beratungen wundere ich mich immer wieder, wie viel Leidensdruck Menschen auf sich nehmen und aushalten, um dann kurz darauf festzustellen, dass sie sich trotzdem gegen eine Veränderung entscheiden. Dahinter verbirgt sich oft eine Angst vor dem neuen, unbekannten Gebiet, das vor ihnen liegt. Auch wenn das Leben im Moment alles andere als zufriedenstellend verläuft, so haben sich viele Menschen damit doch irgendwie arrangiert. Sie finden sich einigermaßen zurecht, finden die abenteuerlichsten Begründungen dafür und halten enormen inneren wie äußeren Druck aus. Irgendwie. Bis es irgendwann einmal nicht mehr geht und sie daran zu zerbrechen drohen.


Erschwerend kommt hinzu, dass Menschen in der Regel nicht gerne Hilfe in Anspruch nehmen. Das Eingeständnis, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, löst Versagensängste und Schamgefühle aus. Dabei ist es genau das, was uns Menschen ausmacht: Dass wir empathiefähig sind, aufeinander schauen, Verantwortung füreinander übernehmen und uns gegenseitig unterstützen, wenn wir es aus eigener Kraft nicht schaffen. Dafür müssen wir uns nicht schämen. Und wenn wir es doch tun, weil wir es nicht anders gelernt haben und nicht anders können, dann sollten wir uns bewusst machen, dass es mit Sicherheit besser ist, sich für einen kurzen Moment zu schämen, als ein Leben lang zu leiden.


© Thomas Kalkus-Promitzer 2022-09-07

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