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Eine Klientin, die sich sehr intensiv mit ihrem Geborgenheitsgefühl auseinandersetzte, wollte auf „Nummer sicher“ gehen und buchte vor ihrem Urlaub noch einen kurzfristigen Termin bei mir. Sie hatte in der letzten Zeit schon einige Fortschritte erzielt und sich erfolgreich auf die Spurensuche ihrer verloren gegangenen Geborgenheit begeben. Da saß sie nun und erzählte von berührenden Begegnungen und Situationen, an die sie sich wieder erinnerte. Viele schöne Momente der Vergangenheit drangen wieder ins Bewusstsein und durften im Hier und Jetzt wirken. Sie weinte, sie lachte und manchmal tat sie auch beides gleichzeitig. Nun durfte sie bald wieder gemeinsam mit Freund:innen eine Woche in den Bergen verbringen. Die Vorfreude darauf war groß. Sie nahm sich vor, in dieser Woche jeden einzelnen Moment der Geborgenheit intensiv wahrzunehmen. Den Schutz, den ihr dabei die Gruppe und einzelne Mitglieder bieten würden. Die menschliche Wärme und das Vertrauen in die Gemeinschaft. All das wollte sie nicht nur erleben, sondern auch für die Zukunft festhalten. Jeden einzelnen, flüchtigen Moment. Sie erzählte mir, dass sie sich dafür extra ein schönes Notizbuch besorgen werde, in das sie all diese wertvollen Erfahrungen schreiben würde. Die gemeinsame Woche in den Bergen würde so zu einer Kraftquelle werden, auch wenn sie jetzt schon wusste, dass die einzelnen Etappen durchaus kraftraubend werden würden. Die Gruppe würde sie dabei aber unterstützten, so wie sie es auch schon in der Vergangenheit getan hatte. Darauf vertraute sie und das vermittelte ihr schon jetzt das Gefühl, eingebettet und geborgen zu sein. Alles wird gut.


In den letzten Jahren wurde der Begriff der Achtsamkeit fast schon inflationär verwendet. Aber genau hier, während ich den Ausführungen dieser wunderbaren Frau lauschen durfte, erschien er mir wieder passend und greifbar. Das erinnerte mich daran, selbst wieder öfter ganz im Hier und Jetzt sein zu wollen. Ganz besonders in stressigen Zeiten. „Wenn du es eilig hast, geh langsam“, soll Konfuzius einmal gesagt haben. Wie Recht er doch hatte! Geborgenheit mag zwar ein flüchtiges Gefühl sein, aber wir können es konservieren, in dem wir uns erlauben, es ganz bewusst wahrzunehmen, mit allen Sinnen vollständig darin einzutauchen und diese Erfahrung tief in uns wirken zu lassen. Durch regelmäßiges Wiederholen unterstützen wir diesen Prozess und verankern das Gefühl.

Ich bin mir ganz sicher: Jeder Mensch hat Geborgenheit schon einmal erlebt. Vielleicht haben wir das vergessen, aber verlernt haben wir es nicht. Indem wir uns diese Momente wieder bewusst machen, knüpfen wir daran an, holen sie in unsere Gegenwart und speichern sie für zukünftige Zeiten, in denen wir uns wieder nach Schutz, Wärme und Vertrauen sehnen werden. Dann wird wieder alles gut und darf es auch bleiben.


In einer Woche kommt meine Klientin wieder zu mir. Ich freue mich schon jetzt auf die Erzählungen von ihrer Woche in den Bergen.


© Thomas Kalkus-Promitzer 2022-09-01

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