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Zwei Leben

Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf und stellst fest, dass sich nichts verändert hat. Dein Alltag beginnt wie gewohnt. Die Routine läuft ab. Du erledigst die Dinge, die von dir erwartet werden, ohne groß darüber nachzudenken. Du stehst auf, vielleicht frühstückst du, vielleicht nicht. Du gehst deiner Arbeit nach, kümmerst dich um Verpflichtungen, füllst deine Zeit mit Aufgaben, Ablenkungen, vielleicht mit Sorgen oder Ärgernissen. Und irgendwo inmitten all dessen, vielleicht nur für einen kurzen Moment, kommt die Frage auf: Ist das alles?


Es ist eine Frage, die leicht beiseitegeschoben werden kann. Es gibt genug zu tun, genug Gründe, sich nicht allzu intensiv mit ihr auseinanderzusetzen. Aber sie bleibt. Sie kehrt zurück, mal als ein leises Flüstern im Hintergrund, mal als ein drängender Gedanke, der sich nicht mehr ignorieren lässt. Vielleicht geschieht es in einem Moment der Stille, vielleicht nach einem Verlust, einer Enttäuschung oder einfach nach Jahren der Routine, in denen du plötzlich innehältst und dich fragst, ob du wirklich das Leben führst, das du führen möchtest.


So viele Menschen leben, als hätten sie unendlich viel Zeit. Sie verschieben ihre Träume auf später, ihre Sehnsüchte auf unbestimmte Zeit, ihre wahren Wünsche in eine ferne Zukunft. Sie ertragen Dinge, die sie unglücklich machen, aus Gewohnheit, aus Angst vor Veränderung, aus Unsicherheit darüber, was stattdessen sein könnte. Sie funktionieren. Sie existieren. Aber leben sie wirklich?


Das Leben ist nicht unbegrenzt. Das weißt du. Natürlich. Theoretisch ist es jedem bewusst. Doch wirklich begreifen, wirklich fühlen, dass unsere Zeit endlich ist – das tun die wenigsten. Und wenn es dann doch geschieht, wenn ein Moment kommt, der dich mit voller Wucht daran erinnert, dann ist es oft ein Schock. Weil es bedeutet, dass alles, was du aufgeschoben hast, vielleicht nie passiert. Dass jeder Tag, den du ohne Bewusstsein für seine Einzigartigkeit verbringst, ein verlorener Tag ist. Dass du vielleicht jahrelang darauf gewartet hast, zu leben – ohne zu merken, dass das Leben längst da war.


Vielleicht hast du dein Leben bisher wie eine Sanduhr betrachtet. Du siehst, wie der Sand langsam durch die schmale Öffnung rinnt, in einem ruhigen, gleichmäßigen Strom. Und weil der obere Teil noch gefüllt ist, glaubst du, du hättest genug Zeit. Doch was, wenn sich plötzlich jemand vorbeugt und die Sanduhr umdreht? Oder wenn du feststellst, dass viel weniger Sand übrig ist, als du dachtest? Was, wenn du erst dann realisierst, dass du die Zeit, die dir bleibt, bewusster hättest nutzen sollen?


Manchmal sind es äußere Ereignisse, die uns aufwecken. Ein Unfall, eine Krankheit, der Verlust eines Menschen, der uns nahestand. Plötzlich ist da diese Dringlichkeit, plötzlich fühlt sich Zeit nicht mehr wie eine Ressource an, die endlos zur Verfügung steht. Plötzlich wird jede Sekunde wertvoll. Und dann geschieht etwas Erstaunliches: Prioritäten verschieben sich. Dinge, die eben noch wichtig erschienen, verlieren ihre Bedeutung. Und anderes, das lange in den Hintergrund gerückt war, drängt in den Vordergrund. Die Frage ist: Warum warten, bis uns das Leben zwingt, aufzuwachen?


Es ist nie zu spät, bewusst zu leben. Es ist nie zu spät, Entscheidungen zu treffen, die dein Leben verändern. Es ist nie zu spät, sich von Dingen zu lösen, die dich zurückhalten, und den ersten Schritt in eine Richtung zu machen, die sich wirklich nach deinem Weg anfühlt. Aber es erfordert Mut. Es erfordert Ehrlichkeit gegenüber dir selbst. Und es erfordert die Bereitschaft, das Bekannte, das Vertraute loszulassen – selbst, wenn es bequem ist, selbst wenn es einfacher wäre, alles beim Alten zu belassen.

Der Moment, in dem du wirklich erkennst, dass du nur dieses eine Leben hast, ist der Moment, in dem sich alles ändert. Es ist der Moment, in dem dein zweites Leben beginnt. Das Leben, das du nicht länger einfach geschehen lässt, sondern das du bewusst gestaltest. Das Leben, in dem du Verantwortung für dein eigenes Glück übernimmst. Das Leben, in dem du nicht mehr nur existierst, sondern wirklich lebst.

Vielleicht fragst du dich, wo du anfangen sollst. Die Antwort ist einfach: Hier. Jetzt. Indem du ehrlich zu dir selbst bist. Indem du dir die Fragen stellst, die du vielleicht lange vermieden hast. Indem du dich fragst, was du wirklich willst, unabhängig von Erwartungen, von gesellschaftlichen Normen, von dem, was andere für richtig halten. Indem du beginnst, Entscheidungen nicht aus Angst, sondern aus Überzeugung zu treffen.


Du musst nicht alles auf einmal ändern. Aber du kannst heute damit beginnen, einen bewussten Schritt in Richtung deines echten Lebens zu machen. Und dann den nächsten. Und den nächsten. Vielleicht wirst du irgendwann zurückblicken und erkennen, dass dieser Moment, in dem du dich entschieden hast, wirklich zu leben, der wichtigste Moment deines Lebens war.


Leben ist mehr als Zeit, die vergeht,

mehr als ein Fluss, der ins Weite zieht.

Es ist der Mut, es ist die Tat,

die Stimme, die ruft, die Seele, die sagt.


© Thomas Kalkus-Promitzer 2025

 
 

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