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Die Umwege des Lebens

Du stehst an einem Punkt in deinem Leben, an dem du eine Entscheidung treffen musst. Die eine Richtung scheint logisch, sicher, vorhersagbar. Die andere ist ungewiss, steinig, vielleicht sogar abschreckend. Dein Herz schlägt schneller, weil du ahnst: Der bequeme Weg ist nicht immer der, der dich wachsen lässt. Und doch ist die Versuchung groß, ihn zu wählen. Sicherheit hat einen verführerischen Klang. Doch wahre Erkenntnis, wahres Wachstum, wahre Entwicklung – all das liegt oft auf Wegen, die sich erst im Nachhinein als die richtigen entpuppen.


Umwege erhöhen die Geländekenntnis. Ein Satz, der auf den ersten Blick simpel klingt, doch in seiner Bedeutung eine ganze Welt eröffnet. Denn was bedeutet es wirklich, einen Umweg zu gehen? Es bedeutet, sich auf Unsicherheiten einzulassen, es bedeutet, sich dem Unbekannten auszusetzen, es bedeutet, Fehler zu machen. Aber es bedeutet auch, Erfahrungen zu sammeln, die dich tiefer verstehen lassen, wer du bist, was du kannst und wohin du wirklich willst.


Unser Gehirn liebt Muster und Vorhersagbarkeit. Entscheidungen fallen uns schwer, weil sie oft mit der Angst vor Verlust verbunden sind – ein psychologisches Phänomen, das als Verlustaversion bekannt ist. Wir fürchten uns stärker vor einem möglichen Fehler als wir uns auf einen möglichen Gewinn freuen. Doch wenn du diese Angst verstehst, kannst du sie überwinden. Du kannst dich bewusst für Erfahrungen entscheiden, anstatt dich von der Angst vor einem Fehltritt lähmen zu lassen.


Denke an einen Fluss, der sich seinen Weg durch die Landschaft bahnt. Selten fließt er schnurgerade. Er schlängelt sich durch Täler, umgeht Hindernisse, verändert seine Richtung, manchmal langsam, manchmal mit brausender Kraft. Würde er geradlinig verlaufen, hätte er keine Tiefe, keine Strömung, keine Kraft. So wie der Fluss seine Umgebung formt und von ihr geformt wird, so ist es auch mit deinem Leben. Die Umwege, die du nimmst, sind es, die dir Tiefe geben, die dir die Fähigkeit schenken, mit Herausforderungen umzugehen, die dir Geländekenntnis verleihen.


Jeder Umweg birgt eine Lektion. Und manchmal sind diese Lektionen hart. Du wirst scheitern, du wirst Umwege verfluchen, du wirst Momente erleben, in denen du dir wünschst, du hättest einfach die geradlinige, bequeme Straße genommen. Doch wenn du nach Jahren zurückblickst, wirst du erkennen: Genau diese Umwege haben dich geprägt. Sie haben dich widerstandsfähiger gemacht, sie haben dich weiser gemacht, sie haben dir gezeigt, wozu du wirklich fähig bist.


Das psychologische Konzept der Resilienz beschreibt genau diesen Prozess. Menschen, die Herausforderungen und Krisen nicht ausweichen, sondern sie durchleben, entwickeln eine innere Stärke, die sie in Zukunft widerstandsfähiger macht. Je mehr du dich traust, neue Wege zu gehen, desto mehr wächst deine Fähigkeit, mit Unsicherheiten umzugehen. Du trainierst dein Gehirn darauf, nicht nur Sicherheit zu suchen, sondern auch Wachstum und Sinn.


Es ist eine Illusion zu glauben, dass es nur einen richtigen Weg gibt. Du bist nicht auf Schienen unterwegs, auf einer vorgegebenen Bahn, von der du nicht abweichen darfst. Dein Leben ist ein Pfad, den du selbst gestaltest. Manchmal führt er durch dichte Wälder, manchmal über karge Felsen, manchmal durch blühende Wiesen. Und oft genug wirst du erst im Rückblick erkennen, dass ein scheinbarer Irrweg in Wirklichkeit die beste Route war.


Es gibt Entscheidungen, die sich als falsch herausstellen. Es gibt Fehler, die wehtun. Doch was wäre die Alternative? Stillstand? Vorsicht bis zur Bewegungslosigkeit? Ein Leben, in dem du nur das tust, was sicher scheint, ist kein wirklich gelebtes Leben. Stell dir einen Segler vor, der den Hafen nie verlässt, aus Angst vor Stürmen. Er wird niemals das offene Meer spüren, niemals die Freiheit erleben, die nur denen zuteilwird, die bereit sind, Risiken einzugehen. Der Preis für Sicherheit ist oft die verpasste Erfahrung. Und was für ein hoher Preis das ist!


Unser Gehirn ist plastisch – das bedeutet, dass es sich ständig verändern kann. Die Wege, die du wählst, formen buchstäblich deine neuronalen Verbindungen. Wenn du dich immer für Sicherheit entscheidest, verstärkst du deine Angst vor Unsicherheit. Wenn du dich hingegen traust, neue Erfahrungen zu machen, trainierst du dein Gehirn darauf, mit Veränderung besser umzugehen. Es wird leichter, neue Chancen zu erkennen, anstatt nur Risiken zu sehen.


Du wirst nicht jede Entscheidung richtig treffen. Das ist nicht das Ziel. Das Ziel ist, Entscheidungen zu treffen. Voranzugehen. Auch wenn du Umwege machst, auch wenn du Umwege bereust – du bewegst dich. Und während du dich bewegst, lernst du. Du lernst, dass du Stürme überstehen kannst. Du lernst, dass du auch nach Rückschlägen weitergehen kannst. Du lernst, dass dein Leben nicht durch Fehler definiert wird, sondern durch die Art und Weise, wie du mit ihnen umgehst.


Wage es, dich auf das Leben einzulassen. Wage es, Entscheidungen zu treffen. Wage es, Umwege zu gehen. Und wenn du eines Tages zurückblickst, wirst du sehen: Jeder Umweg hat dich zu dem Menschen gemacht, der du heute bist. Und genau das ist es, was ein gelingendes Leben ausmacht.


© Thomas Kalkus-Promitzer, 2025

 
 

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