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Die Kraft von Ritualen

Die Welt dreht und verändert sich und unsere Gesellschaft entwickelt sich mit ihr. Nicht immer bewegt sie sich dabei in eine Richtung, die uns gefällt. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen oder anhalten, alles fließt, nichts bleibt. Panta rhei. Dadurch entsteht in uns das starke Bedürfnis, zumindest für einen überschaubaren Zeitraum kurz innezuhalten, um an lieb gewonnene, althergebrachte Traditionen anzuknüpfen und der vertrauten Atmosphäre der guten, alten Zeit noch einmal nachzuspüren. Wir fügen Vergangenheit und Gegenwart für einen Moment aneinander und machen uns damit selbst das Geschenk der Orientierung, Sicherheit und Halt für die Zukunft. Darin steckt die fast magische Kraft von Bräuchen und Ritualen. Wusstest Du, dass sich das Wort „Ritual“ ursprünglich vom Begriff „Ritus“ ableitet? Damit war eine religiöse Zeremonie gemeint, die durch festgelegte Worte, Bewegungen oder Symbolhandlungen gekennzeichnet war. So sollte das Wohl der Gemeinschaft sichergestellt werden. Der Ritus erfüllte den Sinn, uns zu schützen und zu einen, denn das Gefühl der Geborgenheit entsteht auch im gemeinsamen Tun. Und weil uns das so gut tut, feiern wir bis heute gemeinsam Feste, die ursprünglich einen religiösen Zweck verfolgt haben, auch wenn der Glaube vielleicht für uns selbst keine so bedeutende Rolle mehr spielen mag. Es ist schön, verbindend und berührend zugleich, zusammen um den geschmückten Baum zu stehen und zu singen, gemeinsam zu essen und sich zu beschenken. Vorausgesetzt natürlich, dass damit positive Erinnerungen geknüpft sind. Wenn das irgendwann nicht mehr möglich ist, verlieren wir damit auch ein Stück Vertrautheit und Geborgenheit. Ich kenne Menschen, die den Weihnachtsbaum für ihre Katze dekorieren, weil sonst niemand mehr da ist.


Wir besuchen die Gräber von Verstorbenen, schmücken sie mit Blumen oder Gegenständen, beten dort für sie und senden das eine oder andere liebe Wort in die Erde hinab. Das lässt uns noch einmal Verbundenheit spüren, auch wenn oder gerade weil wir wissen, dass wir einander physisch nie mehr begegnen werden. Denselben Zweck erfüllen auch Kerzen, die wir im Gedanken an einen Menschen anzünden und ins Fenster stellen. Wir zeigen damit auch nach außen unsere Verbundenheit: Ich denke an dich.


Eine liebe Freundin hat zu mir einmal einen wundervollen Satz gesagt: „Es ruckelt, wenn das Leben in den nächsten Gang schaltet.” Genau dann, wenn das Leben ruckelt, möchten wir uns irgendwo, oder noch besser, an irgendjemandem festhalten. Rituale geben uns diesen Halt. Dort, wo dies nicht im Großen möglich ist, versuchen wir das zumindest im Kleinen. Deshalb hänge ich auch so an meinen kleinen Ritualen, die ich in meinen ganz normalen Alltag integriert habe. Der Kaffee und die Stille in der Früh. Die heiße Dusche nach einer schweren Nacht. Der Tagebucheintrag nach einem Kriseneinsatz. All das gibt mir Kraft und Halt und gehört für mich dazu, um mich geborgen zu fühlen.


© Thomas Kalkus-Promitzer 2022-08-28

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