Als Kinder haben wir uns vor Gewittern sehr gefürchtet. Wenn das Wetter draußen tobte, wurden in der Wohnung die Lichter abgedreht und die Stecker der elektrischen Geräte gezogen, damit der Blitz nicht „durch die Leitung“ kommen konnte. Dann saßen wir ängstlich zusammen und zählten die Sekunden zwischen Donner und Blitz. Die Anspannung war jedes Mal groß. Wir fühlten uns der höheren Gewalt schutzlos ausgeliefert, als ob wir wie vor Tausenden von Jahren in der freien Wildnis ums Überleben kämpfen würden. „Eins, zwei, drei…“ Erst wenn sich das Gewitter entfernte, atmeten wir erleichtert auf.
Noch heute muss ich manchmal an meine Furcht von damals denken, wenn mir heftige Emotionen begegnen. Gefühle können uns überfordern und ängstigen, wenn sie plötzlich und heftig kommen. Wenn ein emotionaler Sturm aufzieht, es empfindlich donnert und blitzt, dann möchten wir uns am liebsten verkriechen, suchen Schutz und Geborgenheit und wünschen uns, dass das Gewitter schnell weiterzieht. Oft vergessen wir dabei, dass ein Gewitter auch reinigenden Charakter haben kann. Der Anspannung vor dem großen Donner folgt die Ruhe danach. Kein Gewitter dauert ewig und auch der stärkste Sturm geht einmal vorbei. Rein rational ist uns das völlig klar. Aber wer sagt das, bitte schön, unseren Gefühlen?
Vom Dalai Lama soll folgende Weisheit stammen: „Nur wer Angst verspürt, kann auch mutig sein.“ Ich weiß nicht, ob seine Heiligkeit das wirklich gesagt hat, aber es gefällt mir. Die Angst steht damit nicht allein und isoliert da, sondern erfüllt einen Zweck und zeigt einen möglichen Weg auf. Und tatsächlich macht Angst seit jeher für unser Überleben Sinn. Sie warnt uns vor Gefahren und lässt uns aus einer schmerzhaften Erfahrung lernen. Ein Leben ohne Angst wäre vermutlich sehr schmerzhaft und kurz. Zu viel Angst wiederum lähmt uns. Ebenso wie die Angst vor der Angst. Die Dosis macht eben doch das Gift. Das gilt für negativ wahrgenommene Gefühle genauso wie für positive. Wenn wir unseren Gefühlen einen Hinweischarakter zugestehen, dann gilt es drei Aspekte zu beachten: Gefühle brauchen die Erlaubnis, um da sein zu können und wahrgenommen zu werden. Laden wir sie nicht ein und heißen wir sie nicht willkommen, dann kommen sie unangekündigt, wie unangenehme Verwandte, die man nur schwer wieder los wird. Gefühle brauchen darüber hinaus einen Raum, in dem sie sich zeigen dürfen. Je geschützter dieser Raum ist, umso besser. Und sie brauchen schließlich die entsprechende Zeit, um sich zu entwickeln und danach wieder abflauen zu können. Sind diese drei Aspekte gegeben, dann erfüllen Gefühle in ihren verschiedenen Formen ihren Zweck.
Machen wir uns dabei bewusst: Kein Gefühl ist von Dauer. Auf immer und ewig euphorisch oder betrübt zu sein, würde uns im Alltag stark einschränken, Kraft und Energie kosten. Wenn wir uns aber auf unsere Gefühle einlassen und lernen, auf ihre Hinweise zu achten, dann werden sie zu einer wertvollen Orientierungshilfe.
© Thomas Kalkus-Promitzer 2022-09-14
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